Wie urplötzlich entstanden große Weine im Norden von Rheinhessen. An Orten, die niemand zuvor auf dem Zettel hatte: Saulheim, Stadecken-Elsheim, Appenheim, Essenheim. Herkunft ist für Winzer wie Andre Landgraf, ›Michi‹ Beck, Tobias Knewitz oder den Braunewell-Brüdern alles. Und mit ihnen durch ihre Weinberge zu wandern, erschließt mir die Weine von hier in nuce. Genauso wie den Ehrgeiz, im offenen Austausch miteinander die besten Weißweine und Pintos der Welt zu machen.
Foto: Jason Sellers
»Herkunft ist für uns alles, das ist unsere tägliche Arbeit. Der Motor unseres Schaffens. Herkunft ist nicht nur Boden, sondern das Zusammenspiel von Jahrgang, Sonne und Mond, Wind und Wetter, Exposition und der Hangneigung. Aber wir können auch pflegend eingreifen, für ein artenreiches Ökosystem sorgen. Das Grundgerüst jeder Rebe ist gleich. Ihre Physiologie ist allerdings an die Natur ihrer Umgebung gebunden. Dieser Einfluss der Herkunft, somit ihr Geschmack, lässt sich nicht erzwingen – aber markanter herausarbeiten. Das erreichen wir im bewussten und traditionellen Ausbau.« Ein starkes Statement von Tobias Knewitz. Schon sein Riesling-Gutswein hat enormen Schliff und Charakter, während der Appenheimer das beim Hundertgulden noch souverän steigert – immense Spannung zwischen Gelbfleischigkeit und Mineral, zwischen Salz und Frucht. Aus dem Nieder-Hilbersheimer Steinacker kommt sein nächster Geniestreich. Ein Lagenriesling von alten Reben, die auf Kalkstein und Eisenerz wachsen. Genau hier zeigt sich Herkunft: Zwei Lagenrieslinge, Luftlinie nur wenige Kilometer entfernt, aber welch Unterschiede! Der Steinacker, fordernd in seiner Würze, seidig in seiner Haut, hell und frühlingshaftheiter. Während der Hundertgulden Druck macht, fordert, geradezu vibriert. Und Tobias legt dieses Profil von Herkunft gekonnt frei!
»Rheinhessen ist nun mal anders«, sagt Stefan Braunewell, »da sind der ›Teufelspfad‹, die ›Blume‹, der ›Bockstein‹. Nur die kennt kaum einer. Aber wir haben ein solides Konzept und arbeiten an einer klaren Lagencharakteristik über mehrere Rebsorten: Der Teufelspfad ist ein reiner Südhang, warm, voller Nährstoffe, da müssen wir das Wachstum zügeln, alles karg halten. Diese Weine haben Kraft und enormes Potenzial, sind in ihrer Jugend aber eher verschlossen. Das Gewann Klopp aus dem oberen Teil ist der pure Kalkstein, was unserem Grauburgunder viel Zug und Mineralik bringt! Die Blume ist noch mal heißer, südwestlich ausgerichtet, im Boden sandiger. Diese Herkunft zeigt weniger Gerbstoff, die Weine sind dafür saftiger, fruchtbetonter, früher zugänglich und offener. Doch genau darum geht es doch auch im Cool Climate: um die Delikatesse der Frucht!« Recht hat er. Wenn man die Weine vom Alkohol oder dem Holz befreit, die Erträge rigoros senkt, die Weinberge in Balance bringt und im Keller auf Zeit setzt, tritt die Herkunft unweigerlich zutage: Allein die Unterschiede zwischen den Grauburgundern von Klopp und Teufelspfad sind frappierend! Dann die Rieslinge: Der Boden setzt die Frucht unter Druck und diese belohnt mit seidiger Präzision, während die Blume beschwingt bleibt, federnd am Gaumen. Die Spätburgunder mögen keinen Firlefanz: Mineralien docken im Teufelspfad an die lichte Fruchtsäure an, die aber auch etwas Dunkles hat, während die Blume sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Herkunft muss zupacken – wie hier!
Kommen wir zu Michi Beck, dem Pionier hier im Norden, seit über 30 Jahren dabei. ›Packendes Spiel bei definierter Kraft‹, so lautet sein Credo. Er sieht sich durchaus dem Erbe der ehrwürdigen Ingelheimer Rotweintradition verpflichtet, wo insbesondere Portugieser und St. Laurent auf windoffenen Plateaus und in kargen Mergelböden aus niedrigen Erträgen aufblühen. Das ist echte Charakterstärke, die sich Beck hier selbst erarbeitet hat: »Ich habe nie auch nur einen Liter so gemacht, wie ich es gelernt habe.« Herkunft wird bei Beck auch an seinem unglaublichen St. Laurent exemplarisch, der von einem ehemaligen Kalkriff im Jugenheimer Goldberg stammt: Wild, ungezähmt und doch geschliffen ist er. Ganz fein im Tannin. Auch die mineralische Kühle zeigt Herkunft – bei aller Schwarzkirsche, Brombeere, Cassis, Rauch, Mokka und Speck. Und das enorme Reifepotenzial. Die Vollausstattung der Natur schmeckt man bereits in Becks Riesling-Ortswein ›Terra fusca‹ von rarem Kalksteinbraunlehm mit dieser ebenso raren Würze. Dazu ein trockener Weißburgunder ›Pelosol‹ aus dem Stadecker Spitzberg mit Steinobst, Grapefruit und dem typischen Feuerstein, während der Grauburgunder ›Stadecker Lenchen‹ mit Noten von Cavaillon-Melone und rosa Grapefruit betört. Weine, die wie die Lagenrieslinge und Lagenspätburgunder jugendlich anecken sollen, damit sie in ein paar Jahren so richtig aus sich rauskommen. Im Zeitalter des Weicheiweins Bollwerke bieten, die sich nicht gleich erschließen müssen – auch das ist Herkunft!
Auch Andre Landgraf ist Vorreiter. Schon 2005 gelangen ihm großartige Weine wie der famos gereifte Riesling aus dem Schloßberg. Der Schloßberg ist für Landgraf ein ›ganz eigener Charakterkopf‹, die Kunst ist es, der Reife mit steiniger Kühle zu begegnen. Gerade mal zehn Prozent der Rebflächen in Saulheim wurden flurbereinigt, so wachsen noch viele alte Reben auf schweren Minutenböden, die den Weinen die Mineralien von millionenalter Erdgeschichte mitteilen. Und Andre Landgraf arbeitet diese Herkunft seit Jahren ökologisch heraus, erzeugt bereits bei den famosen Gutsweinen das ›Landschaft-im- Glas-Gefühl‹. Seine Saulheimer Weiß- oder Grauburgunder zeigen die angestammte würzig-salzige Kühle, die aber immer cremig eingehüllt und goldgelb im Glas glänzt. Das sind Bioweine mit enormem Trinkfluss, die sich für jede noch so festliche Tafel empfehlen. Ob nun Spätburgunder oder Weißburgunder Hölle oder Riesling Schloßberg: Das sind allesamt große Weine mit Tiefgang, trinkbare Erdgeschichte und so voller Nuancen, dass ich ihre Zwischentöne nie auskosten werde. Da ist nichts glatt- oder gar weggeschliffen, wie es andernorts geschieht. Nein, Herkunft muss nackte Tatsache sein. Und so grundehrlich wie ihre Macher. Zum Glück hat der Norden aber Charaktere, die einem direkt ins Gesicht sagen: Ich kann das noch einen Tick besser. Und ich arbeite dran!
Artikel Manfred Lüer in VivArt Rhein-Main 12/2017
Rheinhessen Nordic Style – VivArt